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Full text of "Grundlagen und Grenzen der Physik"

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Grundlagen 
und Grenzen 
der Physik 



Gegen den 
Hochmut 



2014 



Texte: © Copyright by Edwin Gräupl, Weiserhofstrasse 4, 5020 
Salzburg / Österreich, edwin.graeupl@gmx.at 

Bilder: Wikimedia Commons 



Widmung 




Sir Isaac Newton 



Allen denen gewidmet, denen Bildung mehr bedeutet als 
Ausbildung, besonders denen, die Physik unterrichten. 



In meiner Studienzeit an der Universität Innsbruck gab es für 
kurze Zeit ein Diskussionsforum (sieben Jahre vor 1968!) 
darüber, wie weit Theologie eine Wissenschaft sei. Dabei 
wurde im Wesentlichen (vom Mathematiker Wolfgang Gröbner 
gegen den berühmteren Theologen Karl Rahner) damit 
argumentiert, dass Theologie auf Axiomen aufbaue, die 
geglaubt werden müssten, während die Naturwissenschaft 
voraussetzungsfrei wäre. 

Ich (obwohl oder besser weil ich Physikstudent war) brachte 
damals das Argument ein, dass der Naturwissenschaftler beim 
„Schluss" vom vergangenen Experiment auf die künftige 
Anwendung ebenfalls auf seinen Glauben angewiesen wäre. 

Ich habe meine Meinung seit damals in diesem Punkt nicht 
geändert. Nach meiner Überzeugung ist ohne das Fundament 
gewisser Grundannahmen nichts möglich, sei es in der 
Naturwissenschaft oder sogar in der Mathematik. 

Im Folgenden werde ich diese Position für den Fall der Physik 
genauer darlegen. Ich glaube, dass das zwar dem „working 
scientist" sehr egal sein wird, dem Lehrer der 
Naturwissenschaften darf es aber nicht gleichgültig sein. Physik 
im Bildungskanon muss mehr bieten können als 
Rechenrezepte. 

Darüber hinaus möchte ich ansprechen, dass auch die 
Wissenschaft Physik von Menschen entwickelt worden und 



damit den Begrenzungen der menschlichen Natur unterworfen 
ist. 

Allen Physikern möchte ich dringend empfehlen, sich der 
Vorläufigkeit und Gefährdung ihrer Ergebnisse klar bewusst zu 
sein. Hochmut ist nicht angebracht. Um mit den Worten aus 
dem Canto LXXXI von Ezra Pound zu sprechen: 

„Pull down thy vanity, I say pull down" 



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Hier soll das diskutiert werden, was allen Lehrgängen der 
zeitgenössischen Physik zu Grunde liegt, ohne dass darüber je 
ein Wort verloren würde. Das alle ist für den „working scientist" 
so klar, dass jede Diskussion mit einem Anfänger darüber 
schlechthin unsinnig erscheint. Allenfalls gealterte 
Nobelpreisträger schreiben post festum in Büchern, die alle 
ansprechen sollen, einige Worte dazu. 

Ich muss gestehen, dass ein Student gut beraten ist, sich alle 
Techniken der Physik mit maximalem Eifer anzueignen. Wer 
lange über die Voraussetzungen nachdenkt, wird kein 
erfolgreicher Physiker werden, leider. Hier, in diesem Büchlein, 
darf aber nachgedacht werden: Was sind die 
unausgesprochenen Axiome und Prinzipien der Physik? 



Abschnitt 1 



Naiver Realismus 



„Common Sense" 

1. Es gibt „die" intersubjektive Realität 

2. Experimente „befragen" die „Realität" 

3. Was gestern „wahr" war, wird auch morgen 
„wahr" sein 



Was da draussen („vor der Höhle Piatons") sein mag, haben 
sich Menschen schon immer gefragt. Diese Neugier gehört 
wohl zur conditio humana. 

Die „Realität" 

Seit Jahrtausenden haben Philosophen darüber nachgedacht, 
was ausser meinem (nach Descartes unbezweifelbaren) „Ich" 
noch existiert. (Hier ist nicht der Ort, das nachzuerzählen, gute 
Hinweise findet man etwa bei Berkeley , Kant , Mach .) Dazu gibt 
es im Abendland aber auch eine praktisch handwerkliche 
Antwort vernünftiger Bürger, den „ common sense ". Die 
Physiker von heute handeln so, dass man annehmen muss, sie 
gingen davon und damit von der unbezweifelbaren Existenz der 
„Welt" aus, die für alle Menschen gleich und von ihnen 
unabhängig da ist. Man nennt das den naiven Realismus . 

Das Experiment 

Die große Erfindung der abendländischen Wissenschaft ist das 
Experiment , das an die Stelle der simplen Betrachtung der Welt 
tritt. Wissenschaftshistorisch denkt man dabei an die 
Fallversuche Galileis als Prototyp dieses Verfahrens. Der 
Physiker stellt dabei die Eigenschaften der (allen in gleicher 
Weise gemeinsamen) Welt unter genau definierten und 
protokollierten Bedingungen durch systematische Beobachtung 



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und Messung fest. Das Ergebnis dieser (systematisch 
wiederholten) Experimente definiert normativ die 
Beschaffenheit der Welt. 

Der „ewige Kosmos" 

Alle Vorhersagen der Technik mit Hilfe der angewandten Physik 
gehen davon aus, dass das, was sich gestern im Experiment 
gezeigt hat, auch morgen in der Anwendung so zeigen wird. 
Korrekt geplante Brücken stürzen nicht ein. Im neunzehnten 
Jahrhundert (etwa Haeckel ) sprach man hier von „ewigen 
Gesetzen". 



Abschnitt 2 



Neuzeitliche 
Wissenschaft 

Methodische Ausgrenzung 

1. „Real" ist nur, was interpersonal reproduzierbar 
ist 

2. Die Frage nach dem Sinn ist sinnlos 



Der große Aufstieg der Naturwissenschaften seit dem 
siebzehnten Jahrhundert ist (neben Einflüssen einer sich 
entwickelnden Wirtschaft) auch darauf zurückzuführen, dass 
man das Forschungsfeld dramatisch einschränkte. 

Objekt der Naturwissenschaft 

Die Naturwissenschaft (oder auch die Physik) beschäftigt sich 
ausschließlich mit der „Realität", die durch das Experiment 
definiert ist. Nur was interpersonal reproduzierbares Ergebnis 
von Experimenten ist, kann Gegenstand von „Science" sein. 
Man führt diese Position meist (und vermutlich nicht ganz 
richtig) auf Galilei zurück. 

Die Frage nach dem Sinn ist sinnlos 

Die (vorwissenschaftliche) Naturphilosophie der Alten 
diskutierte gern und an zentraler Stelle die Rolle des Menschen 
im Kosmos und damit die Bedeutung der Naturerscheinungen 
für ihn. Die Frage nach dem Sinn der Phänomene war etwa in 
der Alchemie (die noch von Newton sehr ernst genommen 
wurde) das eigentliche Thema. 

Wenn wir in einem Gedankenexperiment annehmen, dass ein 
Engel einem Menschen eine Botschaft gebracht haben sollte, 
die seinem Leben einen Sinn verleiht, dann ist das nicht 
reproduzierbar, nicht überprüfbar und damit nicht Gegenstand 



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der Wissenschaft. Da nun sinnstiftende Erlebnisse nicht 
reproduzierbar sind, fallen sie aus dem diskutierbaren Rahmen. 
Ein "Wunder" (nicht reproduzierbar!) ist nicht Teil der 
wissenschaftlichen Welt! 

Man muss sich darüber klar sein, dass die (methodisch 
sinnvolle) Reduktion und Einengung des Begriffs der 
„naturwissenschaftlichen Wirklichkeit" nicht mit dem Begriff der 
"Wirklichkeit" identisch ist. 

Experimente liefern interpersonal falsifizierbares Wissen, aber 
keinen persönlichen Sinn! 



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Abschnitt 3 



Mathematische 
Physik 

Basis der mathematischen Modellierung 



1. Das Kontinuum der reellen Zahlen gilt als das 
geeignete Instrument zur mathematischen 
Modellierung der „Realität" 

2. „Überall und zu allen Zeiten gleich" bewirkt die 
Erhaltungssätze und umgekehrt 

3. „Realität" ist als Extremwert ausgezeichnet 



Wenn der Fischer sein Netz wählt, so bestimmt er damit, was 
er fangen wird. Wer weite Maschen im Netz hat, wird keine 
kleinen Fische erhalten. Genau so wird durch die Auswahl der 
mathematischen Werkzeuge bestimmt, welche Begriffe in einer 
Theorie zielführend sein werden. 

Das Kontinuum der reellen Zahlen 

Isaac Newton erfand für sein epochales System (zeitgleich mit 
Leibniz) die Infinitesimalrechnung. Grundlegend dafür ist das 
Konzept des Kontinuums, woraus sich dann die reellen Zahlen 
ergeben. Die Koordinaten der Dinge sind in Newtons Welt 
reelle Zahlen (zur Erinnerung: das kann unendlich viele nicht 
periodische Dezimalstellen bedeuten, z.B.: 3,14159....) und das 
ist bis heute so. Damit ist vor jeder Erfahrung eine wesentliche 
Aussage über die (nach Einstein vierdimensionale) Welt 
getroffen, die noch dazu in krassem Widerspruch zu allen 
Atom-Hypothesen steht. Noch immer ist das Kontinuum (ein 
Konzept , das von einer spezifischen Eigenschaft unserer 
optischen Wahrnehmung induziert wird) der reellen Zahlen mit 
der auf ihnen aufbauenden Mathematik das „geeignete" 
Instrument der mathematischen Modellierung der „Realität". 

Die Erhaltungssätze 

Grundlage jeder mathematischen Beschreibung der „Natur" ist 
die Gültigkeit der Erhaltungssätze, also Erhaltung von Energie, 



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Impuls und Drall. Diese, immer wieder als zutreffend 
beobachteten Sätze sind mathematisch äquivalent ( Emtny 
Noether ) zu Invarianzen der Naturbeschreibung. Ist die 
mathematisch formulierte Naturbeschreibung zu allen Zeiten 
gleich beschaffen (invariant gegenüber einer Verschiebung der 
Zeit), so ergibt sich daraus notwendig der Satz von der 
Erhaltung der Energie. Aus der Invarianz gegenüber Translation 
und Rotation folgen die Sätze der Erhaltung von Impuls und 
Drehimpuls (Drall). Konstruiert man also eine physikalische 
Theorie in der Form, wie es Newton getan hat, so sind darin 
diese Erhaltungssätze vor jeder Erfahrung festgelegt. 
Umgekehrt gilt, dass der Glaube an die Erhaltungssätze zur 
Folge hat, dass die Welt gegenüber Verschiebungen in Zeit und 
Raum invariant ist. Das ist der (vorläufige) Endpunkt der 
Verschiebung des „Mittelpunktes des Universums" von der Erde 
über die Sonne nach überall (und nirgends). 

Realität als Extremum 

Vergleichsweise sehr rasch entwickelten viele Mathematiker 
ersten Ranges die Newtonsche Theorie des Planetensystems 
zu erstaunlicher Leistungsfähigkeit und unerwarteter Eleganz. 
Es zeigte sich, dass die wirklichen Bahnen der Planeten sich 
vor allen anderen denkbaren Wegen dadurch auszeichneten, 
dass die Differenz zwischen kinetischer und potentieller 
Energie - über die Zeit summiert - ein Extremum bildet (die 
Variation des Zeitintegrals über die Lagrangefunktion ist null) . 



Der damit definierte Lagrange-Formalismus erwies sich als 
universell verwendbares Grundkonzept in allen Gebieten der 
Physik. Schließlich erhob man im zwanzigsten Jahrhundert 
diesen mutatis mutandis angepassten Formalismus 
(stillschweigend) zum Grundgerüst jedes Ansatzes für eine 
(künftige) Theorie. Leibniz wäre begeistert gewesen zu sehen, 
dass damit das Prinzip des „ zureichenden Grundes " das 
Fundament aller physikalischen Theorien geworden war. 



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Die unausgesprochene 
Wissenschaftstheorie 
hinter der Praxis der 
Forschung 



Mit Paul Feverabend möchte ich behaupten, dass es bisher 
keine universal gültige und funktionierende Methodologie der 
Physik gibt. Um so genauer sollte man betrachten, was im 
Wissenschaftsbetrieb geschieht. Hier ist man derzeit mit viel 
Pragmatismus am Werk, man kann fast alles berechnen und 
augenscheinlich wenig verstehen. 



Abschnitt 1 



Praxis der Physiker 



Flexibler Pragmatismus im Alltag 

1 . Kritischer Rationalismus an Feiertagen 

2. Langlebige Theorien als Argumentationsrahmen 

3. „Effektive Theorien" und „Patchworkphysik" 



Kritischer Rationalismus 

Nach dem „Mainstream" der Wissenschaftstheorie können 
physikalische Theorien nicht verifiziert werden, sondern nur 
falsifiziert ( Karl Popper ). Tatsächlich agiert die „scientific 
Community" zwar verschämt, aber noch immer, nach dem 
Verifikationsprinzip. Noch immer werden Theorien „bewiesen", 
oder was viel schlimmer ist, es werden nicht falsifizierbare 
Theorien ernsthaft diskutiert. Mit anderen Worten kann man 
sagen, dass der kritische Rationalismus von den Physikern vor 
allem für Feiertagsreden verwendet wird. 

Theorie als Argumentationsrahmen 

Die physikalische Theorie ist ein System, in dem die einzelnen 
Sätze ihren Sinn aus dem Ganzen beziehen, grundlegende 
Begriffe sind nicht isoliert definierbar, sondern nur im 
Zusammenhang sinnvoll. Schon in Newtons Mechanik ist etwa 
der Begriff der „Kraft" nicht isoliert definierbar, sondern nur im 
gesamten Rahmen dieses Systems durch seine Verwendung 
erfassbar. Daher sind auch die Motive für Experimente („Fragen 
an die Natur") nur aus dem jeweiligen Konzept heraus 
verständlich und brauchbar. „Erfolgreiche" Theorien sind 
flexibel und damit gegen „lokale" Falsifikationen sehr 
widerstandsfähig (Lakatos). Selbst wenn es zum 
Paradigmenwechsel ( Kuhn ) kommt, werden die altgedienten 
Vertreter einer Theorie meist nicht überzeugt, sondern sie 



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sterben nur langsam aus ( Planck ). Das vollzieht sich eher als 
soziales Phänomen denn als rationale Theoriekritik. 

Effektive Theorien 

Im zwanzigsten Jahrhundert gelang es, für fast alle bekannten 
Aspekte der physikalisch relevanten Welt präzise 
mathematische Modelle bereit zu stellen. Diese Modelle bilden 
in ihrer Gesamtheit nicht die große universale Theorie, die von 
vielen Physikern angestrebt wird, sie sind nicht einfach zu 
vereinen. Vielmehr dürfen die Modelle nicht über ihren 
Anwendungsbereich hinaus extrapoliert werden, da sie dann 
nachweislich Unsinn produzieren. Es handelt sich also um lokal 
gültige Konzepte, die man „ effektive Theorien " nennt. In 
gewisser Weise ist die aktuelle Physik ein „Patchwork" 
effektiver Theorien, ein Phänomen, das sehr gut in die 
postmoderne Welt passt. Damit ist man von der Welterklärung 
durch die Physik weiter entfernt denn je. 



Abschnitt 2 



Umgang mit 
Schwierigkeiten 

Einige Beispiele für die „Problemkultur" 

1. Himmelsmechanik 

2. Kinetische Theorie der Wärme 

3. Photophorese 

4. Renormierung 



Ein naiver Wissenschaftsfan erwartet von den Physikern, dass 
sie auftretende Schwierigkeiten offen benennen und sich darum 
bemühen die Probleme zu lösen. Dabei vergisst er die Realität 
des Physikers in seinem universitären Umfeld. Nur der 
Wissenschaftler, der klug oder glücklich genug war, sich ein 
lösbare Aufgabe zu stellen macht Karriere. Manche 
Problemfelder werden daher wie die Pest gemieden, da sie als 
Killer des beruflichen Erfolgs gelten. 

Himmelsmechanik 

Isaac Newton selbst hat in seinen „Principia Mathematica 
Philosophiae Naturalis" das Zweikörperproblem gelöst: Ein 
Planet bewegt sich um den Schwerpunkt des Systems „Sonne- 
Planet" in einer elliptischen Bahn. Sehr viel schwieriger wird es 
für den Fall dreier Massenpunkte unter dem Einfluss der 
gegenseitigen Anziehung. Man hielt das „ Dreikörperproblem " 
für so schwierig und wichtig, dass für seine (analytische) 
Lösung Preise ausgesetzt wurde. Immerhin konnte der große 
Mathematiker Poincare zeigen, dass die Lösungen in 
eigenartiger Weise chaotisch sind (was ein halbes Jahrhundert 
später zur Chaostheorie führte). Erst zwei Jahrhunderte nach 
Newton legte im Jahre 1909 Sundmann eine Lösung vor, die 
man schon nicht mehr erhofft hatte, nämlich eine garantiert 
konvergierende Reihe. Leider stellte sich heraus, dass die 
Reihe so langsam konvergiert, dass sie für praktische 
Anwendungen unbrauchbar ist. 1991 erweiterte Qiudong Wang 

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das Verfahren auf den allgemeinen Fall von n Körpern (was 
allgemein für unmöglich gehalten worden war), auch seine 
Lösung ist für praktische Berechnungen leider nicht nützlich. Da 
man inzwischen durch leistungsfähige Computer-Algorithmen 
(etwa den Lie-Integrator ) die himmelsmechanischen Aufgaben 
rasch und präzise lösen kann, ist das Interesse an den 
allgemeinen analytischen Lösungen sehr klein geworden und 
aus dem Fokus der (veröffentlichten) Physik verschwunden. 
Man hat erreicht, was man sich gewünscht hat (die analytische 
Lösung), aber man kann damit nichts anfangen. Daher redet 
man einfach nicht mehr über das, was man vorher wie den 
heiligen Gral gesucht hat, weil der Gral nicht effizient ist. Der 
Erfolgskult der Naturwissenschaft kennt keine Gnade und keine 
Dankbarkeit. 

Kinetische Theorie der Wärme 

Ludwig Boltzmann entwickelte in einer Zeit, in der die Existenz 
von Atomen lediglich eine Hypothese (ohne die Möglichkeit der 
Falsifikation durch ein Experiment) war, seine Theorie der 
Wärme. Darin leitet er aus der Annahme vieler Teilchen und mit 
Hilfe statistischer Überlegungen aus der Newtonschen 
Mechanik die „Gesetze" der Thermodynamik her, so etwa seine 
berühmte Definition der Entropie. In seiner Theorie wird der 
Ablauf der Zeit (im Einklang mit unseren Erfahrungen) zur 
Einbahn, von gestern zum morgen. Das widerspricht allerdings 
der Mechanik Newtons, in der etwa ein Film der 



Planetenbewegung auch bei rücklaufender Projektion eine 
mögliche Situation zeigt. Die Newtonsche Mechanik ist 
invariant gegenüber einer Umkehrung der Zeit, die daraus 
folgende Thermodynamik Boltzmanns aber nicht! Das bedeutet, 
dass irgendwo in Boltzmanns Überlegungen der „ Zeitpfeil " 
eingeführt worden ist, ohne dass das ihm (oder anderen) 
aufgefallen wäre. Auch heute verwendet man (lokal und 
effektiv) mit Erfolg sowohl Newtons Mechanik als auch 
Boltzmanns kinetische Gastheorie. Über diesen Widerspruch, 
oder auch über die fundamentale Frage der gerichteten Zeit 
wird im Lehrbetrieb der Physik meist kein Wort verloren. 
Offensichtlich gilt das als unfruchtbares Theoriegelände. Daran 
haben auch die Bemühungen von llya Prigogine nichts 
geändert. 

Die Photophorese 

Im Gegensatz zu den vorigen Themen ist dieser Komplex eher 
lokal und peripher, dafür aber sehr signifikant. Der 
Wissenschaftstheoretiker Feyerabend lernte als Physikstudent 
in Wien das Phänomen der von Ehrenhaft entdeckten 
„Photophorese" kennen. Er wies später in seiner 
Wissenschaftskritik darauf hin, dass niemand sie erforschen 
wollte oder konnte, ja er bot dem, der das tun wollte seine 
Mitschriften aus seiner Studienzeit an. Ich selbst habe bei 
einem Experimentalseminar in Wien im Jahre 1979 noch die 
Gelegenheit gehabt, ein „Töpfchen" (evakuierter Glaskolben mit 



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Kohlestaubtteilchen) in „Aktion" zu sehen. Faszinierend der 
Tanz der Teilchen im Lichtstrahl! Deprimierend war dabei zu 
sehen und im Gespräch zu erfahren, wie der Mainstream 
Personen und Fragen ausgrenzt, die nicht opportun scheinen. 

Renormierung 

Die Beseitigung der Divergenzen der Quantenelektrodynamik 
durch die sogenannte Renormierung ( Richard Fevnman ) wurde 
weitgehend als mathematisch und logisch sehr zweifelhaftes, 
aber wirksames Rezept angesehen. So schrieb etwa Walter 
Thirring noch 1990 in seinem „Lehrbuch der Mathematischen 
Physik", dass er dieses Konzept nicht behandle, weil ihm 
derzeit noch die nötige mathematische Seriosität fehle. Hier 
sieht man sehr deutlich, dass auch sogenannte mathematische 
Methoden bisweilen nur deswegen akzeptiert werden, weil sie 
Resultate liefern, nicht aber, weil sie logisch nachvollziehbar 
wären! 

Dafür gibt es auch schon in früherer Zeit ein lehrreiches 
Beispiel. Oliver Heavyside entwickelte 1880 bis 1887 seinen 
Operatorenkalkül, der dadurch Differentialgleichungen in 
algebraische Gleichungen verwandelt, dass er (ohne logische 
Rechtfertigung) mit dem Differentialoperator rechnet, wie mit 
einer reellen Zahl. Das war für jeden Mathematiker eine 
unverschämte Zumutung, bis es gelang eine mathematisch 
exakte Theorie (die Laplace-Transformation) zu entwickeln, die 
genau das erlaubt. Wunderbar dazu das Zitat von Heavyside: 



Die Mathematik ist eine experimentelle Wissenschaft, und 
Definitionen waren nicht zuerst da, sondern entstanden erst 
später. 

Damit ist klar der pragmatische Standpunkt mancher 
Naturwissenschaftler formuliert, der Theorien nicht nach ihrer 
logischen Qualität, sondern nach ihrer Verwendbarkeit 
qualifiziert. Folglich sollte aber dann auch die Attitüde des 
streng logisch denkenden Wissenschaftlers abgelegt werden! 



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Bedenkliches 




Abschnitt 1 

Das Letzte 



Jenseits der Empirie 



Jenseits der Empirie 

Seit nunmehr fast hundert Jahren arbeiten die Physiker daran, 
einerseits die Quantenwelt nicht nur berechnen, sonder auch 
„verstehen" zu können und andrerseits die Gravitation mit 
diesem Konzept kompatibel zu machen. Nicht zufällig hatte 
Albert Einstein , der Schöpfer der allgemeinen 
Relativitätstheorie immer wieder Zweifel an den Ergebnissen 
der Quantentheorie seit Schrödingers Einführung der Psi- 
Funktion (und damit der Wahrscheinlichkeit) angemeldet. In 
den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte man 
begonnen „Strings" statt punktförmiger Elementarteilchen als 
grundlegende Struktur einzuführen. Diese „ String Theorie " hat 
sich seither sehr weit entwickelt und bietet auch Lösungen für 
eine gemeinsame Theorie aller Kräfte (einschließlich der 
Gravitation) an, allerdings mit einer wesentlichen 
Einschränkung: Alle diese theoretischen Konstrukte sind bisher 
weder praktisch anwendbar noch falsifizierbar! 

Der Wissenschaftstheoretiker Richard Dawid schlug deshalb in 
seinem Buch „ String Theory and the Scientific Method " eine 
neue Methode der Bewertung physikalischer Theorien vor: Die 
„nicht empirische Bestätigung"! 

Bekanntlich kann niemand sagen, was „Kunst" ist, vielmehr 
wird im Kreis der etablierten Kunstliebhaber und Kunsthändler 
im Diskurs einem Produkt dieses Adelsprädikat zu- oder auch 



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abgesprochen. In ähnlicher Weise soll das nun auch bei den 
nicht falsifizierbaren Theorien der Physik geschehen. Damit 
deutet sich (zumindest partiell) das Ende einer Periode von 
vierhundert Jahren empirischer Naturwissenschaft an, das 
postmoderne Zeitalter hat begonnen. 



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Literatur 






Literaturempfehlung 



Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Suhrkamp (stw 
597), Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-518-28197-6 

Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967; 2. Auflage 1976, ISBN 
3-518-06733-8. 

Imre Lakatos, Proofs and Refutations. Cambridge University 
Press, Cambridge 1976, ISBN 0-521-29038-4 

Karl Popper, Vermutungen und Widerlegungen, ISBN 
3-16-147311-6 



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